An Schlaf war also nur sehr bedingt zu denken und als ich um 04:30 dann endlich aufstehen konnte, war es schon eine kleine Wohltat, sich wieder zu bewegen und vom kalten Fußboden weg zu kommen. Draussen war es noch ziemlich kalt und dunkel, so dass ich versuchte mich noch ein bissl aufzuwärmen, während wir ein kleines Frühstück zu uns nahmen.
Zu 05:40 kamen wir dann los, wobei die Sonne recht schnell raus kam und die Ostrinne der Königsspitze schnell vom wärmenden Licht erfasst wurde. Schon beim Einstieg kamen uns ein paar Schneebrocken und teilweise leichter Stein-/Eisschlag entgegen, so dass man aufpassen musste. An der engsten Stelle der Rinne, die insgesamt im Schnitt gute 40 Grad Steigung aufweist, warteten wir dann auf einen günstigen Moment um schnell die etwas kritische Querung zu absolvieren. Aufgrund der immer höher stehenden Sonne wurde es zunehmend heisser, und ich merkte bald schon die alles andere als erholsame Nacht. Scheinbar war ich auch noch nicht richtig akklimatisiert. Ich kam nur sehr langsam voran und Alex schaute immer öfter nach mir.
Bis dahin war ich recht gut mit dem steilen Gelände zurecht gekommen, hatte gar nicht gross darüber nachgedacht bei den zahlreichen Spitzkehren im exponierten Steilhang. Das Schwierigste an der Ostrinne schien hinter mir zu liegen, doch kurz vor dem flacheren Stück oberhalb der Unteren Schulter auf etwa 3400 m passierte es dann: Ich rutschte unverhofft mit dem talseitigen Ski weg und begann den Hang runterzurutschen. Da ich nur zu gut die Geländestruktur der Königsspitze kannte, war mir klar, dass ich sehr schnell handeln musste, wenn ich nicht immer schneller werden wollte und durch die seitliche Rinne über den Felsabsatz abstürzen wollte um irgendwo hunderte Meter tiefer liegen zu bleiben ... Mit den Skistöcken als Art Rettungsanker und durch Gewichtsverlagerung konnte ich mich temporär fangen, begann dann aber gleich weiter zu rutschen, da das Gelände so steil war. Mit aller Kraft rammte ich die Skistöcke ein ums andere Mal in den sulzigen Schnee und hielt mich so fest es ging daran fest, bis ich schließlich nach zahlreichen Versuchen erschöpft zum Stillstand kam. Es gelang mir einen kleinen Tritt für den talseitigen Ski zu machen und das Gewicht erneut zu verlagern, so dass ich die Skibindung öffnen konnte und dann mit dem Skischuh einen besseren Tritt schlagen konnte. Den zweiten Ski wurde ich auf die Art auch noch los und schließlich stand ich wieder halbwegs sicher im Steilhang. Immer noch den Schreck in den Gliedern, sah ich nun zu, dass ich sicher die paar Meter hinauf in die Spur zurück kam. Alex war nur wenige Meter vor mir gewesen und kam dann auch zu Hilfe, doch da alles so schnell ging, konnte er nicht direkt helfen. Zusammen absolvierten wir noch ein paar flachere Meter, bis sich ein Skidepot anbot.
Ich war sichtlich geschafft nach diesem unfreiwilligen Zwischenfall, und auch so war ich körperlich an dem Tag nicht sonderlich gut drauf. Vermutlich lag es wirklich an der unsanften Nachtruhe bei mir, denn an sich hatten wir ja erst knappe 900 hm absolviert, und das war sonst nie ein Problem für mich gewesen. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und meiner körperlichen Verfassung stellte Alex dann die Frage in den Raum, ob ich mir noch die restlichen 400 hm zum Gipfel am exponierten Steilhang zutrauen würde oder ob ich den direkten Abstieg zur Pizzinihütte bevorzugen würde. So oder so nahmen wir von der Idee Abstand noch bis zur Casatihütte zu kommen, da dies noch mal gut 450 hm Gegenanstieg bedeutet hätte. Ich überlegte nicht allzu lange und sagte, dass ich noch weiter wolle zum Gipfel. Die Entscheidung fiel hauptsächlich in meinem Kopf, mein Körper sah die Sache definitiv anders. Doch ich war mir sicher, dass ich es nach oben und auch wieder runter schaffen würde. Alex fragte noch mal nach und ich bestätigte, dass ich es mir noch zutraute, und wenig später ging es dann auch schon los zum Gipfel.
Ich habe die Ski dort gelassen und bin ohne Gepäck mit Steigeisen und Eispickel zum Gipfel, während Alex noch seinen gewichtsoptimierten Rucksack inklusive seiner Ski mitgenommen hat, um später vom Gipfelgrat abfahren zu können und damit wir oben eine Vesperpause machen konnten. Auf diesen letzten steilen 400 hm sollte man nicht (!) als Seilschaft unterwegs sein, denn im Falle eines Sturzes wird mit höchster Wahrscheinlichkeit die ganze Seilschaft mitgerissen. Hier muss jeder für sich zurecht kommen oder alternativ besser den Gipfel meiden, denn an diesem Gipfelhang sind schon einige Unglücke passiert.
Wie in Trance habe ich mich Meter um Meter den steilen Hang hinaufgekämpft. So fertig wie in der Situation war ich bis dato noch nicht gewesen - und ich hoffe, ich bin es auch nie wieder bei irgendeiner Tour. Die immer dünner werdende Luft kostete mich immer mehr Kraft, und ich kämpfte ununterbrochen mit mir selbst. Mein Körper wollte alle paar Schritte eine Pause, doch die Zeit lief gegen uns und ich wusste, dass ich sehr langsam unterwegs war. Alex erinnerte mich auch regelmässig daran - und natürlich wusste ich, dass er recht hatte. Es half mir jedoch nur bedingt, denn ich konnte einfach nicht schneller. Mein Kopf sagte mir "weiter" , und so tat ich es dann auch. Ich wollte nicht so kurz vorm Ziel aufgeben. Das Wetter war ein Traum und nun umzukehren wäre mehr als schade gewesen. Ich konzentrierte mich also noch mal so gut es ging und erzeugte mir Tritt um Tritt bis endlich der noch steilere Gipfelgrat erreicht war. Dort angekommen wusste ich, dass ich es schaffen würde. Das Gipfelkreuz hatte ich schon kurz vorher gesehen und den scharfen Grat kannte ich aus der Fachliteratur. Nun hieß es "nur" noch die Nerven bewahren und behutsam zum höchsten Punkt zu stapfen. Fehler macht man dort oben in der Regel genau einmal, doch ich mobilisierte noch mal die letzten Energien und kam ausgelaugt wie nie, aber auch überglücklich zum Gipfel, an dem Alex mich in Empfang nahm und mich beglückwünschte. Es war ein sehr intensives Glücksgefühl nach all den Strapazen den kaum noch für möglich gehaltenen Gipfel erreicht zu haben. Das lässt sich kaum in Worte fassen ... Wir genossen noch einige Zeit den Gipfel, den wir die meiste Zeit für uns alleine hatten, und ich versuchte wieder zu Kräften zu kommen. Denn zum Aufstieg gehört ja auch der Abstieg ...
Zurück zum Skidepot ging es recht gut, wenngleich ich auch gut aufpassen musste mir keine Fehltritte zu leisten. Alex schnallte wenig später die Ski an seine Füße und fuhr den anspruchsvollen Hang hinab zu unseren Sachen. Naja, ich war zufrieden mit mir, dass ich es ohne Ski vom Skidepot heil hinauf und wieder runter geschafft hatte. Wir machten noch eine kleine Rast, dann war auch für mich wieder Skifahren angesagt.
Natürlich waren meine Beine sehr schwer, und ich kämpfte ganz schön. Die Hauptschwierigkeit bestand in der Abfahrt durch die Rinne an der Unteren Schulter, die ordentlich steil abfiel und keine besonders guten Schneeverhältnisse mehr zu so fortgeschrittener Stunde bot. Nicht halb so ästhetisch wie Alex, aber zumindest ohne nennenswerten Sturz, kam ich dann auch wieder in flacheres Gelände und genoss die letzten Höhenmeter hinab zur Pizzinihütte mit dem herrlichen Panorama auf die umliegenden Gletscherriesen. Dort liessen wir uns erst mal in der Wirtsstube nieder und genossen ein Radler und ein Stück Kuchen. Eine Wohltat! Die Anspannung wich nun langsam und das schöne Gefühl eine ganz besondere Tour geschafft zu haben gewann die Oberhand. Wir gönnten uns noch eine knappe Stunde Schlaf und dann ging's zum wohlverdienten Abendessen. Kurz darauf fielen wir beide hundemüde in unsere Betten und schlummerten tief und fest bis zum nächsten Morgen. |